Die letzte Eiszeit

Herr Winfried Hanold von der Museumsgesellschaft Schelklingen wird uns für diese Serie die Steinzeit nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen der heutigen Zeit ein Stück näher bringen und uns wichtige Informationen zur damaligen Zeit geben.

Audiopunkt 1:

„Die Umgebung der Tulkahöhle bot nur noch wenig jagdbares Wild. So berieten die Männer der Sippe nach nur einem Rasttag über einen neuerlichen Jagdzug. Er sollte Rentieren gelten. Zum ersten Mal durfte der junge Rulaman die Jäger begleiten. Die Sippenälteste, die alte Parre, gab den Männern noch mit auf den Weg, sie sollten ihr den Kopf des Burria bringen. Dieser, der Höhlenlöwe, hatte einst ihren Sohn getötet. Den Jägern war ihr Schmerz seit vielen Jahren ein ständiger Begleiter. Noch in der Nacht brach der Trupp der Jäger auf.“

— aus: David Friedrich Weinland: Rulaman. Erzählung aus
der Zeit des Höhlenmenschen und des Höhlenbären,
1878.

Nach archäologischen Befunden und Vergleichen mit jüngeren Jägervölkern der Erde können wir heute das Leben der Eiszeitjäger relativ gut und sicher rekonstruieren. Die „Eiszeit“ bestand in den letzten 400.000 Jahren aus vier ausgeprägten Kaltzeiten, die dreimal von Warmzeiten unterbrochen wurden. Wir leben heute in der vierten Warmzeit, die vor etwa 10.000 bis 12.000 Jahren begann. In diesem Zeitraum streiften zwei Jägervölker durch das eiszeitliche Europa. Vor etwa 130.000 Jahren  lassen sich die ersten, die Neandertaler, nachweisen. Sie wurden vor etwa 42.000 Jahren vom anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens) abgelöst, unserem direkten, weltweiten Vorfahren.

Rulamans Sippe waren anatomisch moderne Menschen. Sie streiften als Jagdnomaden auch durch Süddeutschland, immer den großen Herden von Rentieren und Wildpferden folgend. Dabei dienten ihnen Höhlen wie die „Tulkahöhle“, die Schillerhöhle bei Bad Urach, als wettersicheren Unterschlupf. Doch nicht nur die Jagd trug zur Versorgung einer solchen Jägersippe bei. Einen großen Anteil an der Ernährung hatten essbare Pflanzen, Pilze und Kleintiere, die von Frauen und Kindern im Umfeld der Höhle gesammelt wurden. Je nach Größe einer solchen Sippe war die Umgebung einer Höhle nach einiger Zeit abgesammelt und leer gejagt. Dann musste die Gruppe weiterziehen. Die Jagdtiere waren für die Jäger und Sammler nicht nur Nahrung. Sie lieferten auch das Material für Kleidung und Werkzeuge, waren also überlebenswichtig. 


Audiopunkt 2: 

Rulamans Beute

„Unter Führung von Rul, ihrem Häuptling, machten sich die Tulkamänner auf den Weg auf die Albhochfläche, wo sie Rentiere finden wollten. Für die Jagd waren sie mit Steinaxt, Bogen und Pfeilen, die erwachsenen Männer auch mit Speeren ausgerüstet. Jede Deckung ausnutzend zogen sie über die Mammutsteppe auf der Hochfläche, als plötzlich aus einem Wacholderbusch ein mächtiger schwarzer Vogel hervor rauschte. ‚Kobelo, Kobelo’ rief Rulaman und erlegte den Auerhahn durch einen gezielten Schuss mit dem Bogen. Seine Begeisterung über den Jagderfolg brachte ihm eine Rüge durch seinen Vater ein, der den Jagderfolg durch Rulamans Freudenrufe gefährdet sah.“

— aus: David Friedrich Weinland: Rulaman. Erzählung aus
der Zeit des Höhlenmenschen und des Höhlenbären,
1878.

Über die Bewaffnung der Steinzeitjäger geben Funde in den Höhlen Auskunft. Die wichtigsten Materialien zu ihrer Herstellung waren Feuerstein, Knochen und Elfenbein.

Knochen und Elfenbein wurden vor allem für Geschossspitzen verwendet. Zur Befestigung der Spitzen auf den Speer- und Pfeilschäften wurden Pflanzenbast, Tiersehnen und Birkenpech verwendet. Letzteres konnte durch Verbrennen von Birkenrinde hergestellt werden und war für lange Zeit der „Universalklebstoff“. Um die Reichweite ihrer Speere zu erhöhen, verwendeten die Jäger Speerschleudern. Im Stadtmuseum Schelklingen ist die Nachbildung einer solchen Speerschleuder zu sehen. Über das verwendete Holz gibt es wenig Nachweise, denn es ist in der langen Zeit verrottet. Feuerstein war der „Stahl der Steinzeit“. Seine Bruchkanten sind so scharf, dass sie problemlos selbst dickes Leder schneiden können. Viele verschiedene Werkzeugformen haben Archäologen bei ihren Ausgrabungen gefunden. Auch sie sind im Museum in Schelklingen ausgestellt.

Pflanzen- und Tierwelt unterschieden sich zu Rulamans Zeit deutlich von der heutigen. Die „Mammutsteppe“ mit typischer Tundren-Vegetation prägte die Hochfläche der Alb. Gräser, Moose und Flechten, dazu unempfindliche Kräuter bedeckten den Boden. Sie mussten Kälte genauso aushalten, wie Trockenheit und Sonne. In geschützten Mulden hielten sich kleine Gehölzinseln aus Weiden und Wacholder. „Wald“ im heutigen Sinne gab es noch nicht. Widerstandsfähige Gehölze, wie etwa Kiefern, Erlen und Birken waren in der ausgehenden Eiszeit dabei, die geschützten Täler zurück zu erobern und bildeten einen lichten Wald.

Die häufigsten Tiere waren Fluchttiere der offenen Tundra, Ren und Wildpferd. Sie bildeten die Hauptnahrung der Menschen. Weitaus seltener waren Mammut, Wollnashorn, Riesenhirsch und Steppenbison. In Nahrungskonkurrenz zum Menschen standen die großen Beutegreifer Höhlenlöwe, Höhlenhyäne und der  Wolf.  Der Höhlenbär war zu dieser Zeit ausgestorben oder ausgerottet. Er wurde abgelöst vom Braunbären.


Audiopunkt 3:

Rachepläne

„Nachdem es mit der Jagd auf Rentiere für’s Erste nichts geworden war, nutzen die Männer die Deckung des Waldes am Rande der Steppe. Dort zeigte Rul seinem Sohn einen Kratzbaum des Höhlenlöwen, dem schlimmsten Feind der Eiszeit-Jäger. Er hatte frische Kratzspuren, also musste die mächtige Raubkatze, der Burria, vor kurzem hier gewesen sein. Rulaman erfährt von seinem Vater alles über das Tier, das seinen Großvater getötet hat. Die Jäger ziehen weiter. Plötzlich, auf einem Rasenplatz, entdecken sie ein frisch getötetes Pferd. Der Burria konnte nicht weit sein. Das Pferd lieferte den Jägern das erhoffte Fleisch, doch sie wollten mehr: Rache für den Stammvater der Tulka-Sippe.“

— aus: David Friedrich Weinland: Rulaman. Erzählung aus
der Zeit des Höhlenmenschen und des Höhlenbären,
1878.

„Höhlen“-Löwe, -Bär, -Hyäne, -Mensch … Hatten die Jagdnomaden so viele Konkurrenten um den Lebensraum Höhle? Ja, gab es überhaupt so viele Höhlen? Dieser Audiopunkt am Rande von Hütten, unterhalb des „Hohlen Fels“, soll diese Frage beleuchten.

Höhlen sind oft Sedimentfallen, d. h. alles, was sich über lange Zeiträume in einer Höhle ansammelt, ist dort vor vielen Umwelteinflüssen geschützt und wird nicht abgetragen. Deshalb findet man Spuren des Lebens aus dem Eiszeitalter, dem Pleistozän, vor allem in Höhlen. Weil bei der Erforschung des Eiszeitalters viele Spuren von Löwe, Bär, Hyäne und Mensch in Höhlen gefunden wurden, haben alle diese Lebewesen im 19. Jh. den Zusatz „Höhle“ erhalten. Das bedeutet aber nicht, dass sie auch dauerhaft in den Höhlen gelebt haben. Inzwischen ist der Begriff aus der Fachliteratur weitgehend verschwunden. Schauen wir uns das einmal genauer an.

Unsere Vorfahren im Eiszeitalter waren Jagdnomaden. Sie folgten den großen Herden, die in den kurzen Sommermonaten das Pflanzenangebot in den eisfreien Gebieten zwischen den Alpen im Süden und der skandinavischen Vergletscherung im Norden nutzten. Letztere erstreckte sich während der letzten Kaltzeit, der Würm-Kaltzeit, über Ost- und Nordsee hinweg nach Norddeutschland und den Britischen Inseln. Auf ihren Jagdzügen schlugen die Menschen ihre Jagdlager dort auf, wo sie sich den größten Jagderfolg erhofften. Waren Höhlen in der Nähe, boten sie sich als geschütztes Jagdlager an. In den klimagünstigeren Phasen, die es in jeder Kaltzeit gab, überwinterten die Jägersippen auch einmal in einer geeigneten Höhle. Dauerhafter Wohnsitz der „Höhlenmenschen“ waren sie aber nicht. Was heute in den Höhlen gefunden wird, kann die Summe von Aufenthalten der Jäger sein, die in der damaligen Zeit aber Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte auseinander lagen. Man nimmt an, dass manche Höhlen für die Eiszeitjäger auch religiöse Bedeutung hatten. Deshalb wurden Höhlenwände bemalt oder Figuren in den Höhlen deponiert, wie der Löwenmensch aus dem Lonetal.

Ähnlich wie bei den Menschen sah es auch bei den tierischen Jägern Löwe und Hyäne in der Mammutsteppe aus: Auch sie folgten den großen Herden, wie noch heute in der afrikanischen Savanne. Vor allem Hyänen nutzten, wo vorhanden, Höhlen zur Aufzucht ihrer Jungen. Dorthin schleppten sie auch ihre Beute, um sie unbehelligt von Löwen verzehren zu können. Bären sind eigentlich keine Jäger, sondern Allesfresser, die sich auch an Aas satt fraßen und nur bei günstiger Gelegenheit ein Tier erlegten. Die langen und kalten Winter überstehen Bären in einer Winterruhe. Dazu zogen und ziehen sie sich in selbst gegrabene oder vorhandene Höhlen zurück. Eine Pfeilspitze in einem Bärenwirbel aus dem Hohle Fels zeigt, dass sie dabei bisweilen von Jägern überrascht und getötet wurden.


Audiopunkt 4:

Rulamans Hilfe

Eine breite Spur zeigte den Jägern den Weg in eine nahe Schlucht. Rul und drei der Männer machten sich an die Verfolgung. Die anderen blieben ängstlich zurück. Mutig schloss Rulaman sich ihnen an. Als Rul dies bemerke, gab er Rulaman ein Zeichen, zurückzugehen. Mit den anderen Männern stieg er auf einen Baum, während Rul die Verfolgung des Burria fortsetzte und in der Schlucht verschwand.
Bald darauf hörte man aus der Schlucht das schauerliche Brüllen des Höhlenlöwen und den Angstschrei eines Menschen. „Mein Vater, mein Vater!“ mit diesem Schrei glitt Rulaman vom Baum, ergriff seine Waffen und stürzte in die Schlucht. Atemlos kamen ihm zwei der Männer entgegen, die seinen Vater begleitet hatten. Das konnte Rulaman nicht aufhalten. Kampflustig und voll Angst um seinen Vater eilte er weiter. Da erblickte er den Burria, mit Pfeilen gespickt, aber noch immer aufrecht. Unter seinen Tatzen ein Mann, den Rulaman am weißen Wolfspelz als seinen Vater erkannte.

— aus: David Friedrich Weinland: Rulaman. Erzählung aus
der Zeit des Höhlenmenschen und des Höhlenbären,
1878.

Der Höhlenlöwe war das mächtigste Raubtier der Mammutsteppe. Er konkurrierte mit den Jägern nicht nur um Beute. Bei zufälligen Begegnungen passten die Menschen selbst durchaus in sein Beuteschema. Und die Wahrscheinlichkeit einer Begegnung war groß, hatten es doch Mensch und Höhlenlöwe auf die gleichen Beutetiere abgesehen. Auf der Schwäbischen Alb bestand die Beute der Höhlenlöwen vor allem aus Rentieren und Wildpferden, aber auch aus jungen Bären. Auf diese trafen sie wohl vor allem an oder in den Höhlen, die den Bären als Platz für die Winterruhe oder als Wochenstube dienten. Der mächtige Höhlenbär war allerdings zu Rulamans Zeiten bereits ausgestorben. Dafür bevölkerten Braunbären die eiszeitliche Landschaft. Sie könnten durchaus größer gewesen sein als heutige Braunbären, denn ein großer, massiger Körper ist für das Überleben in kalten Klimaten besser gerüstet.

Höhlenlöwen waren etwas größer als ihre Verwandten, die heute die Savannen Afrikas durchstreifen. Aus Funden von Eismumien weiß man, dass sie ein einfarbig braunes bis schwarzes Fell mit einer dichten Unterwolle besaßen. Es konnte bis zu 6 Zentimeter dick werden und bot einen hervorragenden Kälteschutz. Im Gegensatz zu den heutigen Löwen hatten die Männchen keine Mähne. Diese eigene Unterart der Löwen besiedelte Europa von Spanien bis zum Ural, Sibirien und Teile Alaskas. Dort fanden sie in den Kältesteppen, der Tundra, beste Jagdmöglichkeiten. Da Löwen Hetzjäger sind, ihre Beute überraschen und nach kurzem Spurt erlegen, brauchen sie dazu eine weitgehend offene Landschaft. Bei den afrikanischen Löwen jagen die Weibchen vor allem nachts, während die Männchen tagsüber dichte Vegetation als Deckung nutzen, um Beute zu machen. Wenn das bei den Höhlenlöwen ähnlich war, hatten die Eiszeitjäger allen Grund, in Strauch und Baum bewachsenen Gebieten auf der Hut zu sein.

Die Menschen der Eiszeit hatten zum Höhlenlöwen ein besonderes Verhältnis. Das zeigen nicht zuletzt der große „Löwenmensch“ aus dem Hohlenstein-Stadel im Lonetal, im Museum Ulm zu bestaunen, und sein Miniatur-Abbild aus dem Schelklinger Hohle Fels. Diese Figuren könnten Fabelwesen darstellen, einen Schutzzauber oder auch Schamanen, die sich das Fell eines getöteten Löwen überzogen, um ihre Kraft bei Ritualen zu verstärken. Ob die Steinzeitjäger den direkten Kampf mit ihrem gefährlichsten Konkurrenten suchten, lässt sich aus bisherigen Funden nicht ablesen.


Audiopunkt 5:

Der Burria

Das Unvorstellbare war geschehen. Rulamans Vater lag unter den Pranken des Burria. Wütend und in wahnsinniger Verzweiflung stürzte sich Rulaman auf das Raubtier und schlug mit seiner kleinen Steinaxt nach den Schläfen des Burria. Dieser aber hatte seinen Blick auf den gegenüber stehenden Baum gerichtet, auf den sich der dritte Jäger gerettet hatte. Als der Löwe plötzlich eine Tatze hob, um nach Rulaman zu schlagen, kam Rul frei. Blitzschnell raffte er sich auf, ergriff seinen Sohn und brachte sich entlang der Felswand hinter einem Gebüsch in Sicherheit. Diesen Moment nutzte der dritte Mann aus und schoss dem Burria einen Pfeil in den Hals. Schwer getroffen stürzte das Raubtier den Hang hinab in den Bach.

— aus: David Friedrich Weinland: Rulaman. Erzählung aus
der Zeit des Höhlenmenschen und des Höhlenbären,
1878.

Beinahe wäre Rul in unserer Geschichte von einem Höhlenlöwen getötet worden. Da stellt sich die Frage, wie gefährlich war eigentlich das Leben der Eiszeitjäger, wie hoch ihre Lebenserwartung?

In der populärwissenschaftlichen Literatur wird für den Neandertaler von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 30 Jahren ausgegangen. Bei seinen Nachfolgern, den anatomisch modernen Menschen, soll sie nicht wesentlich höher gewesen sein. Das mag zutreffen, betrachtet man nur den Durchschnitt. Dieser kommt aber durch die hohe Kindersterblichkeit zustande. Hatten die Menschen erst einmal das Erwachsenenalter erreicht, so konnten sie fast so lange leben wie wir. Das jedenfalls zeigt eine Studie von 2007.

Dies sagt aber nichts über die Lebensumstände der Jagdnomaden aus. Sie mussten sicher einen erheblichen Teil ihrer Zeit für den Nahrungserwerb, jagen und sammeln, aufwenden. Dabei kam es zwangsläufig zu gefährlichen Begegnungen mit wehrhaften Tieren. Aus heutiger Sicht betrachtet, waren das die „Verkehrsunfälle“ der Steinzeit. Außerdem mussten die Jägersippen, anders als in der Rulaman-Geschichte, große Strecken zurücklegen, um den Herden ihrer bevorzugten Jagdtiere zu folgen. Krankheiten durch Bewegungsmangel gab es also sicher nicht! Eher stellt sich die Frage, wie die Menschen mit den Mitgliedern ihrer Sippe umgingen, die nicht oder nicht mehr so beweglich waren. Darüber beginnt die Archäologie erst allmählich Erkenntnisse zu gewinnen. Knochenfunde mit verheilten Brüchen oder anderen Verletzungen lassen darauf schließen, dass in den Jägersippen Fürsorge für Verletzte und Kranke herrschte. Insgesamt hatte sich der Mensch bis zur Sesshaftigkeit aber noch kaum von den Mechanismen der Evolution befreit. Das Überleben hing von einer perfekten Anpassung an die jeweiligen Umstände ab. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung überlebt nämlich nicht der Stärkste, sondern der am besten Angepasste!

Umso erstaunlicher ist, dass die anatomisch modernen Menschen die Zeit fanden, ihre Kleidung mit Elfenbeinperlen zu schmücken, aus Elfenbein Tierfiguren und „Fabelwesen“ zu schnitzen, oder, wie in Südeuropa, ganze Höhlen auszumalen. Dies zeugt von Arbeitsteilung innerhalb der Jägersippen.


Audiopunkt 6:

Rul ist verwundet

Regungslos lag der Burria im Bach. Durch den Kontakt mit dem kalten Wasser wachte er aus seiner Betäubung auf und brachte sich in einer Felsgrotte in Sicherheit vor den Jägern. Rulaman und der dritte Jäger hatten andere Sorgen. Sie brachten den schwer verletzten Rul durch die Schlucht hinauf zu den anderen Männern der Jägergruppe. Sorgfältig betteten sie ihren verwundeten Häuptling auf ein Lager aus Moos, versorgten die Wunden und bedeckten ihn mit Tannenzweigen. Sie beschlossen, Hilfe zu holen. Doch wo? In der Tulka-Höhle waren nur noch Frauen und Kinder. Repo, der jüngste Bruder von Rul, schlug vor, nach dem Angekko, dem Häuptling in der Huhka-Höhle zu schicken. Er war heilkundig und seine Leute konnten helfen, den Burria endgültig zu erlegen.

— aus: David Friedrich Weinland: Rulaman. Erzählung aus
der Zeit des Höhlenmenschen und des Höhlenbären,
1878.

Jagdunfälle und Begegnungen mit Raubtieren waren für die Eiszeitjäger eine ständige Bedrohung. Umso wichtiger war, im Falle einer Verletzung die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Wir verlassen uns heute auf die schnelle Hilfe durch einen Rettungsdienst oder Arzt. Die Jäger der Steinzeit mussten selbst wissen, wie mit den damaligen Mitteln Erste Hilfe zu leisten war. Als Jäger und Sammler hatten sie ein großes Wissen über die Natur. Dazu gehörte auch, heilkräftige oder schmerzstillende Pflanzen zu kennen. Und so dürfen wir sicher sein, dass Ruls Wunden nicht nur ausgewaschen wurden. Die Apotheke der Natur lieferte den Jägern blutstillende Pflanzen, solche, die den Schmerz bekämpfen, betäubend wirken und verhindern, dass sich Wunden entzünden. Es war überlebensnotwendig, darüber Bescheid zu wissen.

Wie bei neuzeitlichen, noch naturnah lebenden Völkern, so gab es auch in der Steinzeit Menschen mit besonderen medizinischen Fähigkeiten. Diese Medizinmänner oder Schamanen hatten medizinische Kenntnisse, die weit über das Wissen der übrigen Gruppenmitglieder hinaus gingen. Sie gaben ihnen eine herausragende Stellung in der Sippe und eine große Bekanntheit, wie dem Angekko in der Rulaman-Geschichte. Ihre Heilkunst beruhte nicht nur auf der Kenntnis von der medizinischen Wirkung von Pflanzen, Mineralien oder Tierprodukten. Sie setzten und setzen Suggestion, Hypnose und Trance ein. Dadurch werden die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert und erstaunliche Heilerfolge erzielt. War die Wissenschaft lange in dieser Beziehung auf Vermutungen angewiesen, so gibt der große „Löwenmensch“ einen möglichen Hinweis auf Schamanen, die sich für ihre Rituale der Felle besonders gefürchteter Tiere bedienten.


Audiopunkt 7:

Der Angekko

Nun sollte der Angekko, der Zauberarzt, zur Hilfe geholt werden, um dem schwerverletzten Rul zu helfen. Der Angekko war der Häuptling eines verwandten und befreundeten Stammes, der unweit der Tulka-Höhle wohnte. Die Höhle dieses Stammes hieß Huhka-Höhle, was Uhu-Höhle bedeutet. Feucht und kühl lag sie in einer Schlucht. Aus dem Berg hörte man das Rauschen von Wasser. Folgte man dem Geräusch, kam man zu einem kleinen Bach, der durch ein Felsloch in unbekannte Tiefen verschwand. Weiter im Inneren der Höhle gab es ruhige und klare Seen. Im Fels über dem weiten Höhleneingang nisteten Uhus. Die Huhka-Leute wohnten nicht in dieser Höhle, sondern hatten sich in der Vorhalle und im Schutz des mächtigen Felsens Hütten errichtet. So merkwürdig und unheimlich wie die Höhle, war auch der Angekko. Sein Lieblingstier, ein besonders großer Uhu, pflegte auf seiner rechten Schulter zu sitzen. Das Trinkgefäß des Angekko war das schalenartige Oberteil eines Totenschädels. Er führte seine Leute weniger durch Mut und Kraft, sondern mit Verstand und Schlauheit. Von besonderer Schläue war auch die Art, wie er Bären während ihrer Winterruhe zu jagen pflegte. Er ließ seine Leute den Bären mit so vielen Holzstangen in der Höhle reizen, dass dieser sich selbst verbarrikadierte, indem er die Stangen in die Höhle zog. Dann war es ein Leichtes, das solchermaßen eingesperrte Tier mit Lanzen zu erstechen.

— aus: David Friedrich Weinland: Rulaman. Erzählung aus
der Zeit des Höhlenmenschen und des Höhlenbären,
1878.

Nach der Beschreibung von David Friedrich Weinland ist die Huhka-Höhle leicht zu verorten. Wir kennen sie heute als Falkensteiner Höhle bei Grabenstetten. Spuren vorgeschichtlicher Besiedelung sind in und vor der Höhle keine gefunden worden. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die Höhle ist eine aktive Wasserhöhle. Nach starken Niederschlägen und bei der Schneeschmelze kann der Höhlenfluss so stark anschwellen, dass er wie ein Wasserfall aus dem Höhlenportal stürzt. Er reißt dabei alles mit, was je in und vor der Höhle abgelagert wurde. Dadurch sind auch schon Höhlenforscher in Gefahr geraten, die von einer solchen Springflut in der Höhle überrascht wurden. Um die Falkensteiner Höhle zu befahren, müssen „Siphons“ durchtaucht werden. Das sind Abschnitte der Höhle, in denen sich die Höhlendecke so weit absenkt, dass über dem Wasserspiegel keine Luft mehr verbleibt. Weil das nur Profis können, muss jede Befahrung der Höhle von der Gemeinde genehmigt werden.

Der Uhu, den Weinland dem Angekko zuschreibt, war lange Zeit die mächtigste Eule der Schwäbischen Alb. Er wurde bis 1934 systematisch und vollständig ausgerottet. Nach seiner völligen Unterschutzstellung haben sich seit 1963 die Bestände wieder erholt. Heute ist der Uhu auf der westlichen und mittleren Alb mit rund 50 Brutpaaren vertreten. Den nachtaktiven Jäger kann man kaum einmal beobachten, wohl aber hören. Sein dumpfes, weit hörbares „wúoh“ ertönt auch im Schmiechtal. Das Weibchen antwortet mit „huhuh“. Aktuell bedroht ist der Uhu nur durch Kletterer, die sich nicht an die entsprechenden Vereinbarungen halten und Brutfelsen besteigen. Als Ausflügler sollte man auch Felsköpfe nie betreten, dem Uhu und der empfindlichen Felsflora zuliebe!


Die Reise an den See

Jedes Jahr im Sommer packte die Aimats die Reiselust. Wie viele Jahre zuvor sollte es an den Somsee gehen. Dort lebten die See-Aimats, die im Gegensatz zu den Berg-Aimats in Erdwohnungen am Ufer des Sees siedelten. Also wurde die Tulka-Höhle notdürftig gegen wilde Tiere verrammelt. Dann konnte es losgehen. Viel Gepäck nahmen die Tulka-Leute nicht mit. Das Wichtigste waren die Rentierfelle für den Zeltbau. Sie wurden in einem Korb transportiert, der zwischen zwei Stangen hing. Eine ähnliche Sänfte bauten sie für die alte Parre. Die Wanderung ging langsam voran. Die Männer mussten unterwegs jagen, Frauen und Kinder allerlei Essbares sammeln. Nach wenigen Tagen erreichten sie so den Walbasee. Hier traf die Gruppe ein schwerer Schicksalsschlag. Ein kleines Mädchen wurde beim Erdbeersuchen von einer Otter in den Fuß gebissen. Trotz aller Bemühungen der alten Parre starb es nach einiger Zeit unter großen Schmerzen.

Am nächsten Tag erreichten sie die Ulahöhle, eine große Höhle an einem klaren Bach, der weithin für die schmackhaften Ula-Forellen bekannt war. Rakso, der Häuptling der Ulas, war ein guter Jugendfreund Ruls. Gemeinsam sollte es nun weitergehen zum Langen Fluss. Nach einem Rasttag waren die Ulas reisebereit und die vergrößerte Karawane erreichte das Ufer des breiten Langen Flusses. Mit einiger Mühe wurden Flöße gebunden und sie konnten schließlich die Überfahrt wagen. Am Mittag des achten Tages kamen sie am Ufer des Somsees an.

— aus: David Friedrich Weinland: Rulaman. Erzählung aus
der Zeit des Höhlenmenschen und des Höhlenbären,
1878.

Wie reisten unsere Tulka-Leute? Weinland hat für sie den Weg von Urach über die Alb an den Blautopf, Walbasee genannt, ausgedacht. Wir dürfen davon ausgehen, dass das tief eingeschnittene Aach- und Blautal mit seinen zahlreichen Quellen und fischreichen Flüsschen im Leben der umherziehenden Jägergruppen eine wichtige Rolle spielte. Und sicher waren auch alle Höhlen als Jagdstationen sehr willkommen, so auch die Ulahöhle, der Hohle Fels bei Schelklingen. Die zahlreichen Funde aus der ausgehenden letzten Kaltzeit sprechen jedenfalls dafür. Darunter sind auch Schuppen und Knochen von Fischen, die unter anderem mit Geschossspitzen erlegt wurden, die mit Widerhaken versehen waren. Sowohl in den Magdalenien-Schichten (ca. 12 000 Jahre vor heute) der Brillenhöhle, als auch im Hohle Fels wurden solche „Harpunen“ gefunden.

In der Rulaman-Geschichte wandern die Menschen weiter zum Langen Fluss, der Donau. Die sah zu jener Zeit freilich ganz anders aus als heute. In zahlreichen Haupt- und Nebenarmen durchströmte sie ihr Tal. Erst durch die Donau-Regulierung im 19. Jahrhundert wurde ein einheitlicher Flusslauf geschaffen. Auch der Somsee, der Federsee, der heute noch ca. 1,5 Quadratkilometer bedeckt, war zur Zeit Rulamans mit rund 30–50 Quadratkilometern Wasserfläche um ein Vielfaches größer. Eine dauerhafte Besiedlung (See-Aimats) seines Ufers ist fraglich und erst für die Zeit ab etwa 4300 Jahren vor heute belegbar. Es ist äußerst schwierig, ältere Freiland-Siedlungen archäologisch zu fassen, da die Jagdnomaden immer nur für kurze Zeit an einem Platz verblieben. Dennoch gibt es auch aus älterer Zeit zahlreiche Streufunde, die zeigen, dass die Steinzeitjäger bei ihren Jagdzügen auch am Federsee unterwegs waren. Solche Funde werden nicht zuletzt von ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen der Denkmalpflege gemacht, die mit geschultem Auge Baustellen jeder Art absuchen und so wertvolle Hinweise auf die Siedlungsgeschichte des Landes gewinnen.


Hier noch ein paar Informationen zur Museumsgesellschaft Schelklingen

Die Museumsgesellschaft Schelklingen e. V. wurde vor etwas mehr als 35 Jahren nach einer Idee von Reiner Blumentritt und Siegfried Mall gegründet. Von Anfang an konnten über 50 Schelklinger dafür begeistert werden, die in Schelklingen stark vernachlässigte Geschichte ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Heute hat der Verein rund 250 Mitglieder. Schon bald schob sich der Hohle Fels ins Zentrum der Vereinsarbeit. Ohne den unermüdlichen, ehrenamtlichen Einsatz von Reiner Blumentritt und vieler Vereinsmitglieder wäre der Hohle Fels eine von vielen Höhlen auf der Alb geblieben, imposant zwar, doch über die nähere Umgebung hinaus kaum bekannt. So aber wurde er zu einer Forschungsstätte von Weltgeltung. Es kommen Besucher aus aller Welt, um die Höhle zu besichtigen, und nicht zuletzt wurde er zu einer UNESCO-Welterbestätte. Die Mittel, die die Vereinsmitglieder im Hohle Fels erwirtschaften, werden gemäß der Satzung wieder in die Präsentation des historischen Erbes von Schelklingen investiert. Eine Reihe von Veröffentlichungen, zahlreiche Exponate im Stadtmuseum, die Venus auf dem Rathausplatz und vieles mehr wurden so für Schelklingen erarbeitet. Fast schon „nebenher“ kümmern sich Vereinsmitglieder auch um das Stadtmuseum, dem ursprünglichen Vereinszweck.